Lorentz, Iny - Die Tatarin.pdf
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Iny Lorentz
Die Tatarin
Roman
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ERSTER TEIL
Die Geisel
I.
Die Felsgruppe stieg unvermittelt aus der endlos scheinenden
Steppe empor, so als habe ein Riese sie zum Scherz dorthin
geworfen. Kaum hatten die Tataren sie erblickt, spornten sie
ihre erschöpften Pferde noch einmal an, um die Deckung ver-
heißenden Steine rechtzeitig vor ihren Verfolgern zu errei-
chen.
Der alte Kosak, der direkt neben Sergej Wassiljewitsch
Tarlow ritt, verzog sein bärtiges Gesicht zu einem breiten Lä-
cheln. »Es läuft so, wie ich es dir heute Morgen prophezeit
habe, Väterchen Hauptmann. Die Kerle gehen uns hier in die
Falle!«
Sergej nickte, obwohl er immer noch an der Wirksamkeit des
Manövers zweifelte. »Hoffen wir, dass Wanja und seine Leute
schon dort sind, denn sonst verbarrikadieren die Aufständi-
schen sich zwischen den Felsen, und wir haben das Nachse-
hen. In einer knappen Stunde geht die Sonne unter. Dann
könnten sie uns im Schutz der Dunkelheit entwischen.«
»Das werden die Tataren gefälligst bleiben lassen. Schau,
Väterchen, da ist das Zeichen!« Der Kosak wies auf eine Stel-
le in den Felsen, an der für einen Augenblick ein Arm sichtbar
wurde, der einen Gegenstand schwenkte. Sergej konnte nicht
genau erkennen, was es war, und vermutete, dass es sich um
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den Dreispitz seines Wachtmeisters handelte. Er zügelte sei-
nen hässlichen, aber ausdauernden Braunen, dem er den Na-
men Moschka gegeben hatte, und befahl den Kosaken auszu-
schwärmen. »Passt auf, dass die Kerle nicht zwischen euch
durchbrechen, wenn sie sich wie Ratten in die Ecke gedrängt
fühlen!«
Die Kosaken lachten über seine Worte wie über einen guten
Witz, nahmen ihre Flinten und Karabiner zur Hand und for-
mierten sich zu einer langen Reihe, deren Enden langsam
nach vorne stießen, um die Tataren bei den Felsen einzu-
schließen. Sie gingen so geschickt vor, dass Sergej ein weite-
res Mal zufrieden nickte. Mit solchen Männern an der Seite
würde er jeden Aufstand in Sibirien niederschlagen können.
Sie verfolgten die letzten Rebellen, die ihre Waffen noch
nicht vor den Soldaten des Zaren gestreckt hatten, und Sergej
wollte dafür sorgen, dass die Kerle sich noch an diesem Tag
ergeben mussten.
Während Sergej Tarlow, Hauptmann Seiner Majestät, des
Zaren, das Manöver seiner Männer überwachte, blickte
Möngür Khan, der Anführer der Tataren, über die Schulter
zurück und stellte fest, dass ihre Verfolger zurückblieben und
eine lange Reihe bildeten, mit der sie das Gelände anschei-
nend umschließen wollten. Er lächelte, denn die Felsgruppe
war so weitläufig und zerklüftet, dass sie selbst von der dop-
pelten Anzahl an Männern nicht wirkungsvoll überwacht
werden konnte. Im Schutz der Nacht würden er und seine
Leute die Waffenknechte des russischen Zaren wie lästige
Fliegen abstreifen und unbehelligt in ihre Heimat zurückkeh-
ren. Er winkte seinen Leuten, ihm zu folgen, und lenkte sein
Pferd zwischen zwei hohe Felsblöcke.
In dem Moment erscholl ein scharfes »Halt!«. Gleichzeitig
schoben sich Dutzende von Gewehrläufen aus der Deckung
und zeigten auf den Tatarenkhan und seine Männer.
Möngür riss sein Pferd so scharf zurück, dass Kitzaq, sein
Schwager und Stellvertreter, gegen ihn prallte. Während der
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Khan noch darum kämpfte, nicht von seinem stolpernden
Reittier abgeworfen zu werden, legte Kitzaq einen Pfeil auf
die Sehne seines Bogens und zog durch. Sofort richteten sich
mehrere Läufe auf ihn.
»Lasst die Waffen fallen«, befahl jemand auf Russisch.
Kitzaq übersetzte die Worte für jene Krieger, die die Sprache
ihrer Feinde nicht verstanden.
Die Männer zischten leise Verwünschungen und einige schos-
sen, da die Feinde vor ihnen in sicherer Deckung lagen, ihre
Pfeile auf die Kosaken ab, die von außen einen Ring um sie
zogen. Die meisten zielten auf den russischen Hauptmann, der
sich mit dem Dreispitz auf dem Kopf und seinem grünen Uni-
formrock von seinen Soldaten abhob, die lange Kaftane mit
aufgenähten Patronentaschen, weite Pluderhosen und Pelz-
mützen in verschiedensten Farben und Formen trugen. Noch
mehr als die Kosaken verkörperte der Offizier den verlänger-
ten Arm des verhassten russischen Zaren.
Einer der Kosaken deutete auf die vor ihnen einschlagenden
Pfeile. »Ihr solltet Euch ein wenig zurückziehen, Väterchen
Hauptmann, sonst treffen die Kerle Euch noch!«
Sergej schüttelte den Kopf. Er wollte diese Sache an dieser
Stelle und an diesem Tag zum Abschluss bringen, um dieses
gottverfluchte Sibirien endlich verlassen zu können. Im Wes-
ten des Zarenreichs drohte ein Krieg, der weitaus gefährlicher
war als der Aufstand von ein paar tausend Wogulen, Ostjaken
und Tataren. Sergej erinnerte sich nur mit Schaudern an die
verheerende Niederlage vor sieben Jahren an der Narwa. Pjotr
Alexejewitsch Romanow war es seitdem gelungen, den
Schweden einen Teil Ingermanlands wieder abzunehmen,
aber er hatte nur gegen kleine, verstreute Garnisonen vorge-
hen müssen. Das Hauptheer der Schweden befand sich in Po-
len und Sachsen und trieb dort die Truppen des gar nicht so
starken August zu Paaren. Aber jedermann wusste, dass der
König der Schweden nur darauf lauerte, nach Russland einzu-
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