Ally Condie - Cassia & Ky Bd. 2 - Die Flucht.txt

(546 KB) Pobierz
Ally Condie


Cassia & Ky – Die Flucht

Roman



Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer





Für Ian,

der hinaufblickte

und loskletterte.





Geh nicht gelassen in die gute Nacht

Von DYLAN THOMAS

Geh nicht gelassen in die gute Nacht,

Brenn, Alter, rase, wenn die Dämmerung lauert;

Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.



Weil keinen Funken je ihr Wort erbracht,

Weise – gewiss, dass Dunkel rechtens dauert –,

Gehn nicht gelassen in die gute Nacht.



Wer seines schwachen Tuns rühmt künftige Pracht

Im Sinken, hätt nur grünes Blühn gedauert,

Im Sterbelicht ist doppelt zornentfacht.



Wer jagt und preist der fliehenden Sonne Macht

Und lernt zu spät, dass er nur sie betrauert,

Geht nicht gelassen in die gute Nacht.



Wer todesnah erkennt im blinden Schacht,

Dass Auge blind noch blitzt und froh erschauert,

Im Sterbelicht ist doppelt zornentfacht.



Und du mein Vater dort auf der Todeswacht,

Fluchsegne mich, von Tränenwut vermauert.

Geh nicht gelassen in die gute Nacht.

Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.





Ãœberqueren der Barre

Von ALFRED LORD TENNYSON

Sonnenuntergang und Abendstern

Und ein klarer Ruf für mich!

Oh, möge es kein Seufzen an der Barre geben,

Wenn ich in See nun stech’.



Aber Flut und Wellen ruh’n,

Zu voll für Ton und Gischt,

Wenn das, was aus der grenzenlosen Tiefe kam,

Weder zur Heimat kehrt.



Dämmerung und Abendglocke

Und dann danach das Dunkel!

Oh, möge keine Traurigkeit den Abschied mir erschwern,

Wenn ich an Bord nun geh’.



Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,

Mag Flut mich weit hinweg geleiten,

So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,

Ihm, meinem Steuermann, ins Gesicht zu blicken.





Kapitel 1

KY




Ich stehe in einem Fluss. Er ist blau. Dunkelblau. Er reflektiert die Farbe des Abendhimmels.

Ich bewege mich nicht. Aber der Fluss. Er bedrängt mich und raschelt im Ufergras. »Raus da!«, befiehlt der Wachmann auf der Böschung und richtet den Strahl seiner Taschenlampe auf uns.

»Aber Sie haben doch gesagt, wir sollen die Leiche im Wasser versenken«, erwidere ich, als hätte ich den Wachmann falsch verstanden.

»Ich habe nicht gesagt, dass Sie baden gehen sollen!«, blafft der Wachmann. »Lassen Sie ihn los, und kommen Sie raus. Aber ziehen Sie ihm vorher den Mantel aus. Den braucht er jetzt nicht mehr.«

Ich blicke auf zu Vick, der mir mit der Leiche hilft. Vick setzt keinen Fuß ins Wasser. Er ist zwar nicht von hier, aber jeder im Lager kennt die Gerüchte über die vergifteten Flüsse der Äußeren Provinzen.

»Alles in Ordnung«, flüstere ich Vick rasch zu. Die Wächter und Funktionäre wollen, dass wir uns vor diesem Fluss fürchten – vor allen Flüssen –, damit wir nicht auf die Idee kommen, aus ihnen zu trinken, oder versuchen, sie zu durchqueren.

»Wollen Sie keine Gewebeprobe haben?«, rufe ich dem Wachmann zu, während Vick unschlüssig ein Stück entfernt vom Ufer stehenbleibt. Das eiskalte Wasser reicht mir bis zu den Knien. Der Kopf des toten Jungen hängt in einem unnatürlichen Winkel nach hinten, und seine offenen Augen starren in den Himmel. Die Toten sehen nichts – ganz im Gegensatz zu mir.

Ich sehe zu viele Dinge. Das war schon immer so. Worte und Bilder verbinden sich auf seltsame Weise in meinem Kopf, und ich bemerke kleinste Details, wo immer ich auch bin. So auch jetzt. Vick ist kein Feigling, aber in diesem Moment erkenne ich die Maske der Angst auf seinem Gesicht. Die Arme des toten Jungen baumeln herunter, und die Fäden, die fransig von seinen Mantelärmeln hängen, schweben im Wasser. Seine dünnen Knöchel und die nackten Füße schimmern fahl in Vicks Händen, während er sich einen Schritt näher ans Ufer wagt. Wir mussten dem Jungen bereits die Stiefel ausziehen, und der Wachmann schwingt sie an den Schnürsenkeln hin und her wie ein schwarzes Pendel. Mit der anderen Hand richtet er den Lichtkegel der Taschenlampe genau auf meine Augen.

Ich werfe dem Wachmann den Mantel zu. Er muss die Stiefel fallen lassen, um ihn aufzufangen. »Du kannst loslassen«, sage ich zu Vick. »Er ist nicht schwer, ich kann ihn allein tragen.«

Aber Vick kommt zu mir ins Wasser. Die Beine des toten Jungen werden nass, und seine schwarze Zivilkleidung saugt sich voll. »Tolles Abschiedsbankett!«, ruft Vick dem Wachmann zu. Er klingt aufgebracht. »Hat er sich das Abendessen gestern ausgesucht? Wenn ja, geschieht es ihm recht, dass er tot ist.«

So lange schon habe ich keine Wutgefühle mehr zugelassen, dass sie mich jetzt förmlich überwältigen. Sie füllen meinen Mund, aber ich schlucke sie hinunter, scharfkantig und metallisch, als beiße ich mich durch die Alufolienverpackung eines Essensbehälters. Der Junge musste sterben, weil die Wächter sich verrechnet haben. Sie haben ihm nicht genügend Wasser zu trinken gegeben, deswegen ist er zu früh gestorben.

Wir müssen die Leiche unauffällig loswerden, weil in diesem Zwischenlager eigentlich niemand sterben dürfte. Damit müssen wir warten, bis man uns hinaus in die Dörfer schickt, wo der Feind uns erledigen wird. Aber nicht immer läuft alles wie geplant.

Die Gesellschaft will, dass wir uns vor dem Sterben fürchten. Ich habe keine Angst davor. Nur davor, auf die falsche Weise zu sterben.

»So enden Aberrationen«, erwidert der Wachmann ungeduldig und geht einen Schritt auf uns zu. »Das wissen Sie doch. Es gibt keine letzte Mahlzeit. Keine letzten Worte. Lassen Sie ihn los, und kommen Sie aus dem Fluss.«

So enden Aberrationen. Ich senke den Blick und sehe, dass das Wasser genauso schwarz geworden ist wie der Himmel. Noch lasse ich nicht los.

Bürger enden mit letzten Mahlzeiten, letzten Worten und Gewebeproben, die aufbewahrt werden, um ihnen die Aussicht auf Unsterblichkeit zu bieten.

Mit einer letzten Mahlzeit oder einer Gewebeprobe kann ich nicht dienen, aber Worte kann ich ihm schenken. Worte gibt es immer, und sie wandern zusammen mit Bildern und Zahlen durch meinen Kopf.

Also flüstere ich ein paar, die zu dem Fluss und dem Tod passen:


Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,

Mag Flut mich weit hinweg geleiten,

So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,

Ihm, meinem Steuermann, ins Gesicht zu blicken.





Vick schaut mich überrascht an.

»Jetzt«, sage ich, und gemeinsam lassen wir los.





Kapitel 2

CASSIA




Der Schmutz ist Teil von mir. Das heiße Wasser im Eckwaschbecken läuft über meine Hände und rötet sie so, dass sie mich an Ky erinnern. Meine Hände ähneln seinen inzwischen ein wenig.

Allerdings erinnert mich fast alles an Ky.

Mit einem Stück Seife in der Farbe dieses Monats, November, schrubbe ich meine Finger ein letztes Mal. In gewisser Weise mag ich den Schmutz. Er setzt sich in jede Hautfalte und verwandelt meine Handflächen in Landkarten. Einmal, als ich sehr müde war, sah ich hinunter auf die Kartographie meiner Haut und stellte mir vor, sie könne mir verraten, wie ich zu Ky gelange.

Ky ist fort.

Meine ganze jetzige Situation – abgelegene Provinz, Arbeitslager, schmutzige Hände, körperliche Erschöpfung, seelische Qual – hängt damit zusammen, dass Ky fort ist und ich ihn suchen will. Wie seltsam, dass sich Abwesenheit wie Anwesenheit anfühlen kann. Er fehlt mir so sehr, dass ich dieses Gefühl vermissen würde, wenn es nicht mehr da wäre. Ich würde mich umdrehen und voller Überraschung feststellen, dass ich wirklich ganz allein bin, wohingegen ich vorher wenigstens etwas hatte – wenn auch nicht ihn.

Ich wende mich von dem Waschbecken ab und sehe mich in unserer Unterkunft um. Die schmalen Fenster hoch oben in den Mauern sind dunkel, denn draußen ist die Nacht hereingebrochen. Es ist die letzte Nacht, bevor wir verlegt werden, und die nächste Arbeitsstelle wird meine letzte sein. Morgen, so wurde mir mitgeteilt, werde ich nach Central gebracht, der größten Stadt der Gesellschaft, weil mein endgültiger Arbeitsplatz in einem der dortigen Sortierzentren liegen wird. Eine richtige Arbeitsstelle, nicht länger dieses Wühlen in der Erde, diese harte, zehrende Plackerei. Mein dreimonatiger Arbeitseinsatz hat mich in mehrere Lager geführt, aber bisher lagen alle in der Provinz Tana. Ich bin Ky bisher keinen Schritt näher gekommen.

Wenn ich flüchten und mich auf die Suche nach ihm machen will, muss es bald geschehen.

Indie, eines der anderen Mädchen in meiner Unterkunft, drängt sich auf dem Weg zum Waschbecken an mir vorbei. »Hast du wenigstens noch ein bisschen heißes Wasser für uns übrig gelassen?«, schimpft sie.

»Ja. Natürlich«, flüstere ich. Sie murmelt etwas vor sich hin, dreht das Wasser auf und greift nach der Seife. Mehrere Mädchen stehen hinter ihr Schlange, andere sitzen erwartungsvoll auf ihren Etagenbetten, die in langen Reihen an den Wänden stehen.

Es ist der siebte Tag, der, an dem die Nachrichten eintreffen.

Vorsichtig löse ich den kleinen Beutel von meinem Gürtel. Jede von uns hat so einen kleinen Beutel, und wir müssen ihn ständig bei uns tragen. Der Beutel ist mit Nachrichten gefüllt. Wie die meisten anderen Mädchen auch hebe ich die Seiten so lange auf, bis sie unleserlich geworden sind. Sie ähneln den zarten Blütenblättern der Neorosen, die Xander mir geschenkt hat, als ich wegzog, und die ich ebenfalls aufbewahrt habe.

Während des Wartens lese ich die alten Nachrichten. Die anderen Mädchen ebenfalls.

Schon nach kurzer Zeit vergilbt das Papier an den Rändern und zerfällt – wir dürfen die Worte lesen, sollen uns aber nicht an sie klammern. Meine letzte Nachricht ist von Bram: Er arbeite hart auf den Feldern und sei ein v...
Zgłoś jeśli naruszono regulamin