Kathryn Smith - Band 01 - Tochter der Träume.pdf

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Roman
Aus dem Amerikanischen
von Regina Schneider
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Kapitel 1
D u bist ein Traum. Eine echte Traumfrau!«
Ich stockte jäh, die Limoflasche auf halbem Weg zum Mund, und starrte den
alten Mann an, der neben mir an der Kasse des Drogeriemarktes stand. Das Herz
schlug mir bis zum Hals. »Wie bitte?«
Sein wettergegerbtes Gesicht erinnerte an verschlissenes Leder, und sein Haar
war ein krauser, grauer Lockenwust. Seine Augen hatten jedoch den aufgeweckten
Blick eines Kindes. »Du bist ein Traum, mein Mädchen. Was machst du hier?«
Ich sah mich um, ob irgendwer im Drogeriemarkt die überraschende – und
unüberhörbare – Feststellung mitbekommen hatte. Fehlanzeige. Zumindest taten
alle so, als hätten sie nichts gehört.
Gut, der Mann war ein verrückter, alter Kauz. Kein Grund zur Panik, keine
Notwendigkeit, irgendetwas zu tun. »Sir, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Du bist nicht von dieser Welt. « Er blieb beharrlich und stampfte dabei mit dem
Fuß auf, so dass ich mich fragte, ob er vielleicht mal zur Toilette musste. »Du
dürftest eigentlich nicht hier sein.«
Ich wich instinktiv einen Schritt zurück, nur für den Fall, dass er vielleicht doch
eine schwache Blase hatte. Denn eines lernte man, wenn man in einer Großstadt
wie New York lebte: Die Menschen hier überschritten gern einmal die Grenzen des
Anstands.
Außerdem war er mir unheimlich.
»Ah, verstehe. Ich dürfte gar nicht hier sein.« Ich schraubte den Deckel meiner
Colaflasche zu, während die Kassiererin begann, meine Einkäufe einzuscannen. In
wenigen Augenblicken würde ich draußen sein. Wäre ich nach der Arbeit doch bloß
nach Hause gegangen, aber ich hatte Tampons gebraucht.
»Dann weißt du also Bescheid, oder?«
Ich hatte gehofft, dass die Unterhaltung mit meiner zustimmenden Bemerkung
beendet war, doch offenbar hatte ich mich geirrt. »Worüber?«
»Wer du bist.« Er starrte mich an, und aus seinem Blick sprach leichte
Verwunderung. »Verfluchte Sch … Ich wette, du weißt nicht einmal, wie du
hergekommen bist.«
»Zu Fuß.« Doch eines wusste ich sicher, nämlich, dass ich nicht zu Fuß nach
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Hause gehen würde. Lieber Gott, hoffentlich würde ich ein freies Taxi erwischen,
sobald ich aus der Tür war.
Er fing wieder an aufzustampfen und verzog dabei das Gesicht. Ich wich noch
einen Schritt zurück. »Ich meine nicht, wie du in diesen Laden gekommen bist. Ich
meine, überhaupt auf die Erde.«
Ich schluckte, und meine Kehle fühlte sich rauh an, als hätte ich ein Stück
Teppich verschluckt. »Sir, ich bin hier geboren. Genau wie Sie.« Vielleicht lag es an
den vielen Psychologieseminaren, die ich im Laufe der Jahre besucht hatte,
vielleicht auch an der leisen Angst, die ich spürte, aber irgendwie musste ich ihn
wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. In diese Welt.
Er musterte mich eingehend – etwas zu aufdringlich für meinen Geschmack. »Du
magst zwar hier geboren sein, Mädchen, aber du gehörst hier nicht her. Ich frage
mich, wie du es geschafft hast, durchzuschlüpfen.«
Verdammt noch mal, nichts wie weg hier. Was redete der bloß? »Glück gehabt,
denke ich mal.«
Er starrte mich immer noch aus seinen leicht trüben, aber durchaus wachen
Augen an. »Glück? Nichts da. Wie alt bist du?«
»Sir, das werde ich Ihnen bestimmt nicht auf die Nase binden.« Als Nächstes
würde er mein Gewicht wissen wollen, und dann würde ich ihm glatt den Hals
umdrehen.
»Achtundzwanzig.«
Wie ein Gong hallte seine Stimme durch meinen Kopf. Das stimmte, und jetzt war
er mir erst recht unheimlich. Vielleicht war dies ein Zufallstreffer, aber das
bezweifelte ich.
»Du bist reif für dein Alter«, fuhr er fort. »Bist zur vollen Reife erblüht. Nicht
auszudenken, wie sich das auswirken kann.«
Jetzt reichte es. Ich warf der Kassiererin das Geld hin und hoffte, dass es genug
war, da ich die Summe, die sie genannt hatte, nicht verstanden hatte. Dann
schnappte ich meine Tasche und eilte zum Ausgang, ausnahmsweise einmal
dankbar, dass meine knapp ein Meter achtzig hauptsächlich aus Beinen bestanden.
Da die Kassiererin keine Anstalten machte, mich aufzuhalten, hatte das Geld wohl
gereicht.
Wie durch ein Wunder bekam ich gleich vor der Tür ein Taxi und sprang hinein.
Durch das Fenster sah ich den alten Mann auf dem Gehsteig. Er beobachtete mich,
während er aus einer Dose Eistee trank – die hatte er sich bestimmt von meinem
Wechselgeld gekauft. Dann fuhr das Taxi los, und ich sah ihn wild fuchteln und
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irgendetwas rufen. Ich konnte ihn nicht genau verstehen, aber in meinem
verstörten Zustand klang es wie: DU. GEHÖRST. HIER. NICHT. HER.
Ja. Das wusste ich. Die Frage war bloß, woher, zum Teufel, wusste er davon?
Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter mir zum ersten Mal erzählte, dass ich ein
Traum sei, ein dunkler Traum der Nacht. Ich fing an zu weinen, weil ich dachte, sie
wäre böse mit mir. Doch dann nahm sie mich auf den Schoß und erzählte mir, dass
ich etwas ganz Besonderes sei, da kein anderes Kind auf dieser Welt den König der
Träume zum Vater hätte. Sie erzählte mir, dass ich träumen könne, was ich wollte,
und in meinen Träumen auch tun könne, was ich wollte. Und ich glaubte ihr.
Ich fragte meinen Dad, wie es so sei, der Herr der Träume zu sein, doch er
wusste nicht, wovon ich sprach. Kurze Zeit später fand ich heraus, dass er gar nicht
mein Vater war. Mein richtiger Vater war der Mann, der in meinen Träumen mit
mir spielte und der meiner Mutter ein zärtliches Lächeln ins Gesicht zauberte. Der
Mann, den ich meinen Dad nannte, sah mich häufig an, als würde er mich gar nicht
kennen. Und meine Mutter sah er an, als wisse er, dass er dabei war, sie an einen
Mann zu verlieren, mit dem er nicht mithalten konnte.
Kein Wunder also, dass ich das Reich der Träume der echten Welt vorzog.
Zugegeben, es gab in diesem Reich – der Traumwelt – auch Gefilde, vor denen mich
mein Vater Morpheus warnte, denn offenbar ließ mein Onkel Icelus einige seiner
»Geschöpfe« frei umherwandern. Da in Icelus’ Reich alles Verstörende und
Beängstigende wohnte, hörte ich auf meinen Vater und wagte mich nie aus seinem
Schloss hinaus, aus Angst vor den Monstern und dem, was sie mit mir anstellen
würden. Auch wusste ich, dass ich mich vor dem gespenstischen Nebel in Acht
nehmen musste, der das Reich der Träume umwaberte.
Ansonsten schien mir meine Kindheit lange Zeit völlig normal zu sein, bis ich in
der neunten Klasse merkte, dass etwas nicht stimmte. Dass mit mir etwas nicht
stimmte. Bis dahin war mir nie aufgefallen, dass ich anders war, obgleich meine
Mutter es mir oft genug gesagt hatte. Jedenfalls hielten die meisten Menschen ihre
Träume nicht für etwas Reales und schienen ihnen auch keinerlei Bedeutung
beizumessen.
In meine Klasse ging eine gewisse Jackey Jenkins, die mich stets gnadenlos
schikanierte. Sie war zierlich, blond, stets sonnengebräunt und topmodisch
gekleidet. Ich dagegen war groß, hatte üppige Kurven und war weiß wie ein
Gespenst. Im Unterricht meldete sie sich eifrig, ich dagegen gab nur Antwort, wenn
ich aufgerufen wurde. Trotzdem hatte ich die besseren Noten. Heute weiß ich, dass
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